Fall 2: Äußerung auf dem Schulhof
Während der Pause hören Sie als Pausenaufsicht aus einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern den Ausruf: „Komm her, du Jude!“
Mittendrin
Erstreaktion in der Situation
Wahrnehmen und annähern: Die aufsichtführende Lehrkraft hört die Beleidigung aus einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern heraus und geht zu dieser Gruppe hin. Die Lehrkraft zeigt somit physische Präsenz.
Erstreaktion: Die Lehrkraft setzt ein klares „Stopp-Signal“ und verdeutlicht der Gruppe, dass sie diese Beleidigung wahrgenommen hat (z. B. „Ich habe gehört, was du gesagt hast. Das dulden wir an dieser Schule nicht.“).
Erstklärung: Innerhalb der Gruppe werden in einem ersten Zugang nach Möglichkeit folgende Fragen geklärt:
- Wer hat die Äußerung getätigt?
- Wem galt der Zuruf?
- Aus welchem Zusammenhang hat sich die Äußerung ergeben?
- Mit welcher Absicht wurde die Zuschreibung „Du Jude!“ gebraucht?
Im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern werden ihre Namen und ihre Klassenzugehörigkeit in Erfahrung gebracht. Zudem sollte eruiert werden, ob diese Äußerung schon öfters gefallen ist. Des Weiteren sollte beobachtet werden, wie sich die scheinbar unbeteiligten Zuschauerinnen und Zuschauer innerhalb der Schülergruppe verhalten.
Wichtig ist es auch, sich um die Person zu kümmern, der die Beleidigung gegolten hat, falls dies im Rahmen der Erstklärung möglich ist. Eine Aussprache mit der betroffenen Person und dem Täter/der Täterin sollte nach Möglichkeit sofort bzw., sollte die Pause dafür nicht ausreichen, zeitnah erfolgen. Diese Gespräche sollten als Einzelgespräche geführt werden, um die Entstehung einer für die weitere Aufklärung des Vorfalls hinderlichen Sozialdynamik zwischen den beiden Personen zu vermeiden.
Erkennen der Tragweite: Der Vorfall wird reflektiert und eingeordnet. Bei einem erstmaligen Auftreten kann es sich um eine unbedachte, gleichwohl intolerante Äußerung handeln, die in keiner Weise zu tolerieren ist und geahndet werden muss. Sollte sich herausstellen, dass eine Schülerin oder ein Schüler immer wieder mit der Zuschreibung „Jude“ versehen wird, gilt es zu prüfen, ob hier systematisches Mobbing in Verbindung mit offener, antisemitisch motivierter Ausgrenzung vorliegt. Maßnahmen mit entsprechender Tragweite sind dann erforderlich.
Ausblick auf weitere Aufarbeitung: Der Gruppe von Schülerinnen und Schülern und insbesondere der Täterin/dem Täter und der betroffenen Person wird angekündigt, dass der Vorfall an die zuständige Klassenleitung sowie an die Schulleitung weitergegeben wird. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass es einer genaueren Aufarbeitung bedarf. ( Vertiefungsmaterial zum Fall)
Sofort danach
Einbeziehen weiterer Personen/Aktivieren des Netzwerkes
Absprache der Lehrkräfte untereinander: Die gesammelten Informationen werden zunächst an die jeweils zuständige Klassenleitung weitergegeben. Es erfolgt ein Austausch im Klassenteam mit dem Ziel, schlüssige Antworten auf folgende Fragen zu finden:
- Was ist über die Schülerin/den Schüler bekannt, die/der den Ausruf getätigt hat?
- Was ist über die Schülerin/den Schüler bekannt, der/dem die Beleidigung galt?
- Wie ist der Ausruf „Du Jude!“ zu interpretieren:
- als unreflektierte, jedoch in dieser Form klar antisemitische Äußerung?
- als gezielter Angriff auf eine jüdische Mitschülerin/einen jüdischen Mitschüler?
- als bewusst gesetzte Herabwürdigung, die das Wort „Jude“ gezielt negativ konnotiert?
- Besteht Kenntnis über weitere Vorkommnisse dieser Art in der Schülergruppe?
- Wie wird die Sozialdynamik in dieser Schülergruppe generell eingeschätzt?
- Sind solche Vorfälle schon früher an der Schule festgestellt worden?
- Gibt es schulinterne Regelungen zum Umgang mit demokratiefeindlichen Äußerungen und/oder Handlungen?
- Wer sind die entsprechenden Ansprechpartner? Gibt es an der Schule ein Interventionsteam? Gibt es als Vorlage einen schulspezifischen Dokumentationsbogen?
Je nach Einschätzung der Lage und dem Beratungsergebnis entscheiden die beteiligten Lehrkräfte, ob das Netzwerk der involvierten Personen auf weitere, mit der Schülergruppe interagierende Lehrkräfte ausgeweitet wird, wie mit dem Vorfall umgegangen werden soll und wer die Schulleitung über den Vorfall in Kenntnis setzt. Die Pausenaufsicht, die die Äußerung wahrgenommen hat, kann an dieser Stelle die Verantwortung abgeben, wenn sie nicht auch im unterrichtlichen Wirken mit der Schülergruppe beschäftigt ist.
Klärungsprozess leiten und koordinieren: Es wird von der jeweiligen Klassenleitung geklärt, ob dieses Themengebiet bereits im Vorfeld präventiv oder interventiv in der/den jeweilige(n) Klasse(n) bearbeitet wurde. Vor allem im Rahmen des Geschichts-, Politik- oder Religionsunterrichts kann die Thematik bereits zur Sprache gekommen sein bzw. mit Bezug auf den Lehrplan aufgegriffen werden.
Maßnahmen planen: Im Anschluss an den ausführlichen Klärungsprozess wird auf der Basis einer gemeinsamen Entscheidung der Klassenleitung(en) in Absprache mit der Schulleitung festgelegt, mit welcher pädagogischen Intervention dem Vorfall begegnet wird. Es steht außer Frage, dass Sanktionsmaßnahmen in Betracht zu ziehen sind. Noch wichtiger ist aber, den beteiligten Schülergruppen zu verdeutlichen, dass dieses Verhalten an der Schule keinesfalls geduldet wird, da es ein friedliches und tolerantes Miteinander stört.
Im Zuge der Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern wird ein besonderes Augenmerk auf die betroffene Person gelegt. Es wird in Erfahrung gebracht, wie es ihr in der Situation ergangen ist, ob sie Ähnliches schon öfter erlebt hat und welche Unterstützung sie benötigt bzw. jetzt erwartet.
In Absprache mit der Täterin/dem Täter und der betroffenen Person wird geklärt, welche Art der Wiedergutmachung die Täterin/der Täter leisten kann (u. a. entschuldigen).
Danach wird eine gezielte Planung zu Interventionsmaßnahmen in der Lerngruppe/Klasse/Jahrgangsstufe vorgenommen. Diese richtet sich nach dem Wissenshintergrund sowie der Reife der Schülerinnen und Schüler (vgl. u. a. Materialpool, Material auf Onlineplattform „anders denken").
Die mit dem Vorfall betrauten Lehrkräfte verständigen sich auf die Ziele, die sich idealerweise aus den Maßnahmen ergeben sollen (z. B. Sensibilisierung im Hinblick auf den Sprachgebrauch der Schülerinnen und Schüler, klasseninterne Regelungen bzw. Vertrag zu einem friedlichen Umgang miteinander).
Unbedingt
Transparente Kommunikation zur Herstellung von Öffentlichkeit
Kommunikation in alle Kanäle der Schulgemeinschaft: Je nach Ergebnis des Klärungsprozesses entscheidet die Schulleitung, inwiefern das gesamte Kollegium und evtl. auch die Elternschaft / die Erziehungsberechtigten über den Vorfall unterrichtet werden (vgl. exemplarische Informationsschreiben an Kollegium und an Elternschaft). Eine Entscheidung darüber wird auf der Grundlage der Überlegung gefällt, ob es regelmäßig an der Schule zu solchen Vorfällen kommt, aus welcher Motivation heraus der Ausspruch fiel und welche Schülergruppe davon betroffen war.
Aufklärung über den Vorfall: Sollte die Entscheidung getroffen werden, die Eltern / Erziehungsberechtigten zu informieren, sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:
- Was ist passiert? (ohne Nennung von Namen!)
- Welche schulischen Interventionsmaßnahmen sind geplant bzw. wurden bereits durchgeführt?
- Welche generelle Haltung nimmt die Schule diesbezüglich ein?
- Appell an erziehungspartnerschaftliche Kooperation mit den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten und Bitte um Unterstützung.
Danach!
Umsetzung der geplanten Maßnahmen
Mit der Täterin/dem Täter werden Einzelgespräche geführt; dabei werden nicht nur die an der Schule geltenden Normen und Werte verdeutlicht, sondern es werden auch Maßnahmen zum Ausgleich vereinbart.
Der betroffenen Person werden Hilfsmaßnahmen angeboten, ggf. wird ein Netzwerk an Unterstützern aktiviert. Im Idealfall erfolgt ein Austausch zwischen Täter/Täterin und der betroffenen Person, in dessen Verlauf der Täter/die Täterin lernt, die Perspektive der betroffenen Person nachzuvollziehen.
Für die betroffene Lerngruppe/Klasse/Jahrgangsstufe können Workshops für Schülerinnen und Schüler durchgeführt werden, die aufklären sollen, welche Normen und Werte durch den Vorfall verletzt worden sind. Abhängig von den an der Schule vorhandenen Möglichkeiten kann dies durch die Lehrkräfte oder durch außerschulische Partnerinnen und Partner erfolgen.
Hat sich im Laufe des Klärungsprozesses herausgestellt, dass sich der Ausruf auf eine erkennbar antisemitische Grundhaltung zurückführen lässt, so ist es zwingend erforderlich, Projekte zur Antisemitismusprävention zu initiieren und/oder präventive Handlungsstrategien anzuwenden: So kann die Vielfalt jüdischen Lebens in Geschichte und Gegenwart im Rahmen des Unterrichts, etwa in Geschichte oder Deutsch, thematisiert werden. In diesem Kontext ist es auch möglich, in den Dialog mit jungen Jüdinnen und Juden zu treten (z. B. durch das Projekt des Zentralrats der Juden „Meet a Jew“, vgl. auch Materialpool).
Zudem ist die Planung und Durchführung einer kollegialen Fortbildung und/oder ein themenbezogener Elternabend mit außerschulischen Partnern ratsam.
Dranbleiben!
Evaluation der Maßnahmen und Planen für die Zukunft
Nach der Phase der Intervention wird mit den unterschiedlichen Personengruppen weiter an der Thematik gearbeitet: Dies umfasst unter anderem die Begleitung der betroffenen Person sowie Gesten des Ausgleichs durch die Täterin/den Täter. Das Erreichen der gesetzten Ziele wird nach dem vereinbarten Zeitraum (vgl. Dokumentationsbogen) überprüft. Zudem wird die Thematik bei passenden Gelegenheiten im Unterricht aufgegriffen sowie auf den bestätigten Werte- und Regelkanon der Schule Bezug genommen.
Die erfolgreiche Bearbeitung eines Vorfalls dieser Art kann auch in die zukünftige Schulentwicklung im Sinne der Förderung einer demokratischen Schulkultur integriert werden.
Vertiefungsmaterialien
Hier finden Sie weitere Materialien zur Vertiefung des zweiten Falls der Intervention auf dem Schulhof.