Fall 1: Posts im Klassenchat
Eine Schülerin kommt zu Ihnen als Lehrkraft und berichtet, dass im Klassenchat Hitlerbilder gepostet werden.
Auf ihrem Smartphone zeigt sie einige Beispiele von Memes, auf denen ein Bild Hitlers in Verbindung mit Aussagen wie „Du bist lustig – dich vergas ich zuletzt” oder „Kickt den Juden aus der Gruppe” zu lesen sind.
Mittendrin
Erstreaktion in der Situation
Positive Bestätigung und Bestärkung: Die Lehrkraft erkennt den Mut der Schülerin an, den Vorfall gemeldet zu haben. Zudem sichert sie ihr Schutz zu und eine möglichst vertrauliche Behandlung der Angelegenheit zu. Auch wird mit der Schülerin besprochen, ob sie ggf. anonym bleiben möchte und inwiefern diesem Wunsch entsprochen werden kann.
Erkennen der Tragweite: Bei der Einordnung des Vorfalls wird deutlich, dass es sich hierbei um das Verbreiten von verfassungswidrigen Kennzeichen und Symbolen mit möglichen strafrechtlichen Konsequenzen handelt (§ 86 und § 86a StGB; vgl. „Rechtssicherheit“). Eine Vorverurteilung der/des potenziellen Täterin/Täters ist selbstverständlich zu vermeiden.
Erstklärung: Mit der Schülerin, die den Vorfall gemeldet hat, werden u. a. folgende Fragen geklärt:
- Wer hat gepostet? Handelt es sich um eine Einzelperson oder um mehrere?
- Wie haben die anderen Chatteilnehmer reagiert? Stellte sich jemand gegen die Posts?
- Wie lange werden solche Inhalte schon geliked bzw. geteilt?
Beweissicherung: Mit der Schülerin wird zudem geklärt, ob sie oder ein weiteres Mitglied der Chatgruppe Screenshots der Bilder bzw. Memes zur Verfügung stellen kann. Gegebenenfalls gilt es, hier auch ihre Eltern miteinzubinden. Keinesfalls soll sich die Lehrkraft selbst in die Chatgruppe aufnehmen lassen, die Bilder mit dem Privathandy abfotografieren oder von der Schülerin auf einen eigenen Chat-Account weiterleiten lassen. Falls möglich, werden Screenshots in Kopie an die Lehrkraft ausgehändigt, oder es wird eine digitale Version zur Beweissicherung an eine schulische Mailadresse geschickt.
Wahrnehmung von Betroffenen: Es ist darauf zu achten, ob durch die Inhalte des Chats Schülerinnen und Schüler direkt oder indirekt beleidigt bzw. verletzt wurden.
Planung weiterer Schritte: Die Lehrkraft überlegt sich die weiteren Schritte und signalisiert der Schülerin, sie bei der weiteren Behandlung des Vorfalls an der Schule gegebenenfalls einzubeziehen.
Sofort danach
Einbeziehen weiterer Personen/Aktivieren des Netzwerks
Meldung des Vorfalls: Die gesammelten Informationen werden an die Schulleitung weitergegeben, da es sich um eine Leitungsaufgabe handelt, strafrechtlich relevantem Verhalten zu begegnen und mit den involvierten Lehrkräften mögliche Konsequenzen zu erörtern und zu planen, vgl. KMBek vom 23.09.2014. Für die Weiterarbeit sollten die einschlägigen Notizen und Informationen von Anfang an in einem entsprechenden Dokumentationsbogen festgehalten werden.
Aktivieren der Netzwerke: Unter der Federführung der kontaktierten Lehrkraft bzw. der Klassenleitung finden innerhalb des Klassenteams Absprachen zur konkreteren Klärung des Sachverhalts sowie der Klassensituation statt. Ferner wird in Erfahrung gebracht, ob weitere Vorkommnisse dieser Art in der Klasse oder der Jahrgangsstufe bekannt sind, etwa in Form von verbalen Äußerungen, Schmierereien oder Posts in anderen Chatforen.
Im nächsten Schritt können die Beratungslehrkraft, die Schulpsychologin bzw. der Schulpsychologe hinzugezogen werden, um weitere Hintergrundinformationen zu postenden Schülerinnen bzw. Schülern zu erhalten. Eventuell sind bereits bestehende Strukturen zur pädagogischen Aufarbeitung von Vorfällen an der Schule zu aktivieren.
Klärungsprozess leiten und koordinieren: Entscheidend für die weitere Aufklärung und Maßnahmenplanung sind sowohl Dauer als auch Ausmaß der Vorfälle. Um keine vorschnellen Urteile zu fällen, werden die Motive der Beteiligten gründlich erforscht: Steckt dahinter Provokation, geht es um das Austesten von Grenzen oder doch um eine beginnende Radikalisierung und eine damit einhergehende negative Beeinflussung anderer? In jedem Fall sind die Posts inakzeptabel, im letzteren Fall ist aber davon auszugehen, dass das Veröffentlichen demokratiefeindlicher Zeichen und Symbole keinem naiv-unwissenden Verhalten entspringt, sondern ideologische Hintergründe hat, die geklärt, dekonstruiert und aufgearbeitet werden müssen.
In einem nächsten Schritt folgen Absprachen mit den in der Klasse unterrichtenden Lehrkräften über geeignete interventionistische Handlungsstrategien. Die Federführung kann hier die Klassenleitung übernehmen, die evtl. durch die Geschichts- bzw. Politiklehrkraft unterstützt wird. Neben der Motivation für die Tat sollte deren Auswirkung auf Mitschülerinnen und Mitschüler im Fokus des Interesses stehen. Die Schulleitung wird während dieses Prozesses laufend informiert.
Maßnahmen planen: Bei einem Verstoß gegen §86 und §86a StGB (Verbreiten von Propagandamitteln und Verwenden von verfassungswidrigen Kennzeichen und Symbolen) sind in der Regel die Strafverfolgungsbehörden durch die Schulleitung zu informieren (vgl. KMBek vom 23.09.2014). Gleichzeitig soll die pädagogische Bearbeitung des Falles (u. a. auch durch die Regionalbeauftragten für Demokratie und Toleranz) weitergeführt werden.
Die wesentlichen Akteure aus dem Chat werden in die pädagogische Maßnahmenplanung einbezogen:
- Was werden die Täter/Täterinnen zum Ausgleich und zu ihrer Reintegration in die Gemeinschaft beitragen?
- Welchen Beitrag leisten andere an der Chatgruppe Beteiligte?
- Wie werden sie den angerichteten Schaden wiedergutmachen? Welche Regeln schlagen sie für den weiteren digitalen und analogen Umgang miteinander vor?
Die Schülerinnen und Schüler werden bei diesen Schritten von Lehrkräften unterstützt.
Danach sind für mögliche weitere Vorfälle Interventionsmaßnahmen für die Lerngruppe/Klasse/Jahrgangsstufe festzulegen und offen zu kommunizieren. Es wird definiert, wer welche Maßnahmen durchführt und ob weitere externe Kooperationspartnerinnen und -partner einzuladen sind.
Die mit dem Vorfall betrauten Lehrkräfte verständigen sich auf die Ziele, die sich idealerweise aus den Maßnahmen ergeben sollen (z. B. das Aufklären der Lerngruppe zu den strafrechtlichen Folgen, die sich aus dem Posten von strafbaren Inhalten in Messenger-Diensten ergeben).
Unbedingt
Transparente Kommunikation zur Herstellung von Öffentlichkeit
Kommunikation mit den Mitgliedern der Schulgemeinschaft: Das wichtigste Ziel ist dabei, Gerüchten und Dramatisierungen zu den Vorfällen vorzubeugen. Nur so behält die Schule bzw. die Schulleitung das Heft des Handelns in der Hand. Gerade bei strafbaren Inhalten in Messenger-Diensten ist es unbedingt erforderlich, sowohl die Erziehungsberechtigten als auch das Kollegium zu informieren und in die Maßnahmen einzubinden. Die Schulleitung informiert das Kollegium zu dem Vorfall. Im Sinne der Transparenz ist dies wichtig, selbst wenn nicht das ganze Kollegium in die Aufarbeitung des Vorfalls involviert ist (vgl. exemplarisches Informationsschreiben).
Anschließend wird auch die Elternschaft (betroffene Eltern/Erziehungsberechtigte der Klasse/Lerngruppe/Jahrgangsstufe) proaktiv über den Vorfall informiert (vgl. exemplarisches Informationsschreiben).
Die Informationen an die Eltern sollten folgende Aspekte berücksichtigen:
- Was ist passiert? (ohne Nennung von Namen!)
- Wie geht die Schule damit um?
- Welche Werte und Normen sind in der Schule gültig?
- Welche Maßnahmen der Intervention sind geplant?
- Appell an das erziehungspartnerschaftliche Engagement der Eltern mit Bitte um Unterstützung und Aufklärung über geltende Rechtsnormen.
Je nach Situation ist es anzuraten, einen Elternabend für die jeweilige Klasse einzuberufen, der mithilfe eines Fall 1: Posts im Klassenchat vorbereitet und durchgeführt wird. Inwiefern bzw. wie Eltern / Erziehungsberechtigte betroffener Schülerinnen und Schüler dabei eingebunden sind, muss durch Beratungsgespräche im Vorfeld sorgfältig überlegt und geklärt werden.
Informationsabende, die sich gleichermaßen an die Schülerschaft wie Eltern / Erziehungsberechtigte richten, können infolge als weitere Schritte angedacht werden. Auch hier ist es wichtig, auf das Netzwerk an Fall 1: Posts im Klassenchat zurückzugreifen.
Und los!
Umsetzung der geplanten Maßnahmen
Wenn es Betroffene gibt, die durch den Inhalt des Chats verletzt oder beleidigt wurden, werden diese nach ihren Bedürfnissen gefragt; es wird ihnen Unterstützung angeboten.
Gegenüber den Täterinnen/Tätern wird zunächst festgestellt, in welchem Ausmaß sie durch ihr Handeln geltende Werte und Normen verletzt haben. Anschließend werden Versöhnung stiftende Maßnahmen besprochen, deren Umsetzung – wo es geboten ist – unterstützt wird. Dadurch sollen sie den Schaden, der durch ihre Chatinhalte entstanden ist, ausgleichen und sich durch ihre Handlungen wieder in die Schulgemeinschaft integrieren können. Vertreterinnen bzw. Vertreter der Schule verdeutlichen ihnen in einer klaren Ansprache, für welche Werte die Schule steht, welche Verhaltensweisen erwartet und welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen.
Die Schülerin, die den Vorfall an die Lehrkraft weitergeleitet hat, erfährt für ihr couragiertes Handeln Bestärkung und Bestätigung. Besonders hervorgehoben werden kann dabei, dass die schädliche Dynamik durch das Setzen eines Stopp-Signals in der Chatgruppe durchbrochen werden konnte oder dass die den Vorfall meldende Schülerin gezielt Unterstützung eingeholt hat.
Für die betroffene Lerngruppe/Klasse/Jahrgangsstufe werden Schüler-Workshops durchgeführt, die aufklären sollen, welche Normen und Werte durch die Posts verletzt worden sind. Je nach den an der Schule vorhandenen Möglichkeiten kann dies durch die Lehrkräfte, durch in dem Bereich engagierte Schülergruppen (wie z. B. Medienscouts, Wertebotschafterinnen und Wertebotschafter) oder durch außerschulische Partnerinnen und Partner erfolgen.
Sofern es den Lehrkräften sinnvoll erscheint, kann sich in der Folge auch die SMV am weiteren Prozess beteiligen. So wäre beispielsweise ein gemeinschaftlich konzipierter Projekttag für die betroffene Schülergruppe oder Jahrgangsstufe möglich, in dessen Rahmen auf peer-to-peer-Ebene Workshops von älteren für jüngere Jugendliche angeboten werden. Zudem können einschlägige Arbeitskreise an der Schule (Politik und Zeitgeschichte, Menschrechtsbildung, Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage) einbezogen werden. Des Weiteren kann die Kampagne „Mach dein Handy nicht zur Waffe“ sensibilisierend eingesetzt werden. Schülerinnen und Schüler werden auf diese Weise nicht nur aufgeklärt, sondern auch ermutigt und gestärkt, gerade mit Blick auf Situationen, die sie als Beobachtende erleben und die von ihnen wertebasiertes Handeln erfordern. Eine Konsequenz kann eine schulinterne Verhaltensvereinbarung sein, die von allen Mitgliedern der Schulgemeinschaft unterschrieben wird. Für das Kollegium kann überdies eine themenspezifische Fortbildung mit außerschulischen Netzwerkpartnerinnen und -partnern durchgeführt werden.
Da Eltern sowie Erziehungsberechtigte eine wichtige Rolle für den Erfolg dieser Maßnahmen spielen, sollte in Kooperation mit den zur Verfügung stehenden Netzwerkpartnerinnen und -partnern ein themenbezogener Elternabend abgehalten werden.
Danach
Evaluation der Maßnahmen und Planen für die Zukunft
Nach der Phase der Intervention werden die unterschiedlichen Personengruppen weiter begleitet, um die gesetzten Ziele zu erreichen:
- Haben die Betroffenen Empowerment erfahren?
- Wurden die Konflikte verlässlich gelöst oder braucht es weiterführende Maßnahmen?
- Wurde die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf das notwendige Handlungswissen im Umgang mit Social Media gestärkt?
- Gibt es jemanden, an den sich Schülerinnen und Schüler im Falle zukünftiger Vorfälle wenden können?
- Hat sich das Miteinander der Schulgemeinschaft positiv verändert?
Wurde ein Vorfall dieser Art erfolgreich aufgearbeitet, kann er auch in die zukünftige Schulentwicklung im Sinne der Förderung einer demokratischen Schulkultur einfließen.